Impressionen der Venezianischen (Bier)Kultur

von Conrad Seidl 20/10/2022
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Impressionen der Venezianischen (Bier)Kultur

Venedig - In einer meiner vielen Tätigkeiten neben dem Bierjournalismus beschäftige ich mich mit Kunst. Aktiv habe ich es dabei nicht allzu weit gebracht, aber meine Tochter Titania ist eine international anerkannte Malerin und meine Beschäftigung mit der Kunst gibt mit immerhin die Möglichkeit, interessante Reiseziele anzupeilen. Venedig zur Biennale ist dabei immer ein besonderes Ereignis – außerhalb der heißen Sommermonate ist es auch nicht zu überlaufen, die 59. Biennale läuft ja immerhin bis zum 29. November.

Unter dem Generalthema „The Milk of Dreams” (der Titel ist dem eines surrealistischen Kinderbuchs von  Leonora Carrington entlehnt) werden die Giardini und das Arsenale bespielt. Die beste Empfehlung ist aber, auch jene Bereiche der Ausstellung aufzusuchen, die nicht an den beiden Hauptausstellungsorten etabliert wurden, wiederum: abseits der Touristenrouten. Da findet man die Reflexionen über die Zeit aus Bangladesh im Palazzo Rossini, das Zusammentreffen von elektronischer und indigener Kunst im bolivianischen „River of Stars“ in einer versteckten Galerie in Canareggio oder Melanie Bonajos Auseinandersetzung mit Körper und Sexualität in der ehemaligen Abteikirche della Misericordia.

Winzige Bar, riesige Bierauswahl

Warum ich das so ausführlich erzähle, wenn es doch hier um Bier geht? Weil man erstens zwischen all der Kunstbetrachtung immer wieder mal ein Bier braucht. Weil man zweitens diese Biere oft in der Nähe jener über die Stadt verstreuten Ausstellungsteile findet. Und weil diese Biere auch noch in erstaunlicher Qualität angeboten werden. Von Melanie Bonajos niederländischer Ausstellung geht man nur wenige hundert Meter zum „Bacaro Pub di Aldo“ am Rio della Misericordia – eine winzige Bar mit einer Bierauswahl, die man nördlich der Alpen nicht gewohnt ist. Drei oder vier Biere hängen am Hahn, 100 oder mehr stehen in den Kühlschränken – der Gast wähle bitte selber aus. Die stilistische Breite ist beachtlich. Bei vielen Bierstilen kann man vergleichen, wie sie in Belgien, Amerika oder auch Deutschland angeboten werden und was das italienische „Birra Artiginale“ dem entgegenzusetzen hat.

Ähnlich deutlich – und ebenfalls abseits der Touristenroute – wird das im „Il Santo Bevitore“, wo man neben internationalen Klassikern (Chimay vom Fass ist selbst in Belgien eine Rarität) etwa ein italienisches IPA findet, das mit Kweik-Hefe vergoren ist. Dieses „Mary Hoppins“ wird nur für den lokalen Ausschank gebraut und wäre allein schon den Venedig-Besuch wert.

Geuze zu Fischgerichten

Das wirklich Bemerkenswerte ist aber, dass interessante Biere nicht nur in solchen Spezialitätenlokalen angeboten werden. Kaum ein Café, das nicht wenigstens ein Ale auf der Karte hätte – und zwar zum selben (allerdings recht hohen) Preis, der auch für Lagerbiere verlangt wird. Und das zieht sich bis hin in die feinen Restaurants. Zum Abschluss eine Empfehlung, die zwar tatsächlich an einer Touristenroute, an der Salizada S Geremia, keine fünf Minuten vom Bahnhof, liegt – aber trotzdem mehr lokales Publikum als Touristen bedient. Man hat mir empfohlen, die Rezensionen im Internet zu ignorieren und hinzugehen, wenn ich Fisch mag. Mag ich. Und passendes Bier. Tatsächlich überraschte die Karte mit einer Geuze „Mariage Parfait“ von Frank Boon – ein idealer Begleiter für die ausgezeichneten Fischgerichte, serviert von einem Kellner, der sich als Bierexperte bekennt.

Man würde sich freuen, wenn solches Verständnis für Braukunst auch hierzulande herrschte.