Erinnerungen an alte Biergärten

von Conrad Seidl 03/05/2021
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Erinnerungen an alte Biergärten

Wien - Die Biergärten sind das natürliche Biotop des Bierjournalisten – aber zum Zeitpunkt, da ich diese Kolumne schreibe, bin ich bereits seit Wochen ausgesperrt. Kein Biergarten, kein Brewpub, kein Wirtshaus und keine Bar sind mir zugänglich. Ich bin quasi in meinem großen Archiv mit den hunderten Fachbüchern und Zeitschriften eingesperrt, was ich inzwischen als Glücksfall betrachte – und von den Online-Zugängen zu bedeutenden Bibliotheken könnte mich allenfalls ein Computerviurs aussperren, das Corona-Virus aber nicht.

Und so tauche ich ein in die Bierwelten, die mir in der Realität versperrt sind, gehe zurück in die Welt meiner Kindheit, als ich natürlich auch kein Bier getrunken habe und mir die Biergärten auch Sehnsuchtsorte waren. Meine Eltern waren keine Biertrinker, Biergärten besuchten sie nicht. So blättere ich in einem alten Buch mit noch älteren Bildern – auf der Suche nach den Sehnsuchtsorten meiner Kindheit in Hietzing, einem Wiener Vorort in der Nähe des Schlosses Schönbrunn. Ein Bild, so um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden und somit etwa doppelt so alt wie ich, fällt mir auf: Der Biergarten des in den 1960er Jahren durch ein Einkaufszentrum ersetzten Hotels Vogelreuther – das großartige Online-Zeitungsarchiv der Östereichischen Nationalbibliothek gibt mir Einblick in dessen Geschichte: Am 22. Oktober 1897 hat dort der bis auf einige Marschkompositionen vergessene „Herr Franz Bem, Capellmeister des bosnisch-herzegowinischen Infanterie-Regiments Nr. 1“ einen „Cyclus classischer Concerte“ eröffnet – nachdem dieselbe Kapelle schon im Sommer den Biergarten mit 4000 Plätzen und 400 Gasflammen an jedem Sonntag mit einem großen „Militär-Concert“ beglückt hatte.

Tatsächlich waren ja die Wiener Biergärten und Bierhallen des 19. Jahrhunderts die eigentlichen Konzert-Locations meiner Heimatstadt: Die Musik, die jedes Jahr beim Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker erklingt und in die ganze Welt übertragen wird, war zur Zeit ihrer Entstehung Biergartenmusik. Und wenn Bem, „der jüngste Capellmeister der Armee“, beim Vogelreuther aufgespielt hat, dann wurde dazu kräftig Bier getrunken – in einem „Etablissement der Freiherrl. Tucherschen Brauerei, Nürnberg“, wie das Schild am Eingang stolz verkündet hat.

Dazu muss man wissen: Wiener Bier stand damals weltweit in hohem Ruf – aber in der alten Kaiserstadt war man natürlich stolz darauf, Bier aus Franken importieren zu können. Am Sonntag, dem 14. Juni 1885, findet sich dazu in der „Neuen Freien Presse“ unter dem Titel „Nürnberg in Hietzing“ die Notiz:  „Die Bierbrauerei Baron Tucher in Nürnberg hat in Hietzing ein schönes Etablissement und dazu einen weiten Garten angelegt; sie hat mit dem nahenden Sommer von dem Keller in der Stadt ihr Centrum nach Hietzing verlegt… Nürnberger Gediegenheit, die feine Art und der gute Geschmack der alten Reichsstadt treten uns bei jedem Schritt entgegen.

In einem alten Heimatbuch entdecke ich noch ein Bild von der Runde der „Speisinger Burenfreunde“, die es sich im Jahr 1900 im noblen dreiteiligen Anzug und mit Melone auf dem Kopf beim Bier gut gehen ließen. Der Bildtext erinnert an den politischen Bezug:  „Sie gehörten zu den vielen Gruppen, die sich während des Südafrikakrieges 1900 mi den Buren solidarisch erklärten, was deren Lage allerdings nicht sonderlich besserte.“

Man sieht: Die Biergeschichte hat nicht nur künstlerische, sondern auch politische Bezüge.

Wie ich auch in der ältesten Erwähnung, die ich vom „Bierlokal“ in einer Zeitung gefunden habe, feststellen konnte: „Breslau, 4. Febr. 1849 - In einem hiesigen Bierlokal ist eine so bedeutende Schlägerei zwischen Bürgern und Studenten, in Folge politischer Meinungsverschiedenheit, vorgekommen, daß die Bürgerwehr einschreiten mußte.“ Epidemien hat es auch damals gegeben – wie der nächste Satz derselben Meldung aus Breslau bezeugt: „An der Cholera sind von gestern Mittag bis heute Mittag 24 Personen erkrankt, 10 gestorben.“

(Diese Kolumne erschien zuerst in der Brauindustrie 2020 05)