Wien/Wiesbaden - Hoch über Rüdesheim steht das Niederwalddenkmal – die Germania blickt stolz in Richtung Frankreich, das 1870/71 besiegt worden war. Und dass sich vor der Germania bis hinunter zum Rhein Weingärten erstrecken, trägt auch eine gewisse Symbolik in sich: Deutschland fühlte sich im 19. Jahrhundert Frankreich auch als Weinland zumindest ebenbürtig. Wein prägt ja viele Landschaften des deutschen Sprachraums, auch wenn die Rebfläche Deutschlands nur etwa ein Achtel jener Frankreichs ausmacht. Aber wenn man einen Familienausflug an die Mosel, den Rhein, die Mosel oder die Saale unternimmt, wenn man Urlaub in der Wachau, in Südtirol oder am Neusiedler See macht, kann man den Kindern die riesigen Weinbauflächen zeigen: Schaut mal, da wächst Wein!
Weingärten kann jedes Kind erkennen. Und wo, lieber Papa, wächst das Bier, das Du so gerne trinkst? Das ist schon schwerer herzuzeigen – wenn man nicht gerade in die Hallertau, nach Tettnang, Spalt oder in den Salzlandkreis zwischen Magedburg und Halle (Saale) reist, bekommt man die eindrucksvollen Hopfengärten nicht zu sehen. Sie machen mit rund 21.000 Hektar ja auch nur einen Bruchteil der Weinbaufläche aus.
Wobei der Hopfen ja nur einen kleinen Anteil am Bier darstellt, Gerste wäre wichtiger. Und weil die Kinder so beharrlich fragen, wüsste man schon gerne, wo der Rohstoff für das Malz herkommt. Immerhin: Die deutsche Getreideanbaufläche beträgt etwa 6,1 Millionen Hektar, davon 1,6 Millionen Hektar Gerste. Allerdings: Nicht alle Gerste ist für die Bierproduktion geeignet – die Mälzereien fordern eine bestimmte Qualität, die unter anderem durch einen recht eng definierten Proteingehalt zwischen 9,5 und 11,5 Prozent definiert ist: Zu wenig Eiweiß bedeutet schlechte Schaumqualität, zu viel schlechte Verarbeitung in der Brauerei. Und überhaupt müssen die Körner gleichmäßig groß und durchwegs keimfähig sein. Sonst wird kein Malz daraus – Gerstenpartien, die die Mälzerei ablehnt, werden zu viel geringeren Preisen als Viehfutter verkauft.
Diese Qualitätsmerkmale des Braugetreides kann man als Laie natürlich nicht beurteilen, auch die Mälzereien brauchen ja Labors, in denen diese Parameter überprüft werden. Keine Chance, das den Kindern bei einem Ausflug zu erklären. Von der Ferne sieht man ja nur, dass auf einem Feld überhaupt etwas wächst, Mais, Raps und natürlich Sonnenblumen kann man schon aus großer Distanz ausschließen, daraus wird kein Bier, zumindest nicht in unseren Breiten. Auch Hirse und Hafer, die allenfalls für Randsorten der breiten Palette an Bierstilen in Frage kommen, kann man gut erkennen, wenn man etwas näherkommt. Aber dann wird es schwieriger: Für uns Stadtmenschen ist es nicht unbedingt anschaulich, ob auf einem Getreidefeld Weizen, Roggen oder eben Gerste angebaut wird.
Gerstenanbau auch in Wien
Kleiner Tipp zur Erkennung: Gerstenähren haben lange Grannen; die Braugerste ist zweizeilig, es wachsen also in jeder Ähre zwei Reihen von Körnern. Und die Halme sind kurz, die Ähren schwer und „nicken“ nach unten.
Woher ich das weiß? Die Ottakringer Brauerei, die letzte verbliebene Großbrauerei im Wiener Stadtgebiet, hat im heurigen Juni zu einer Feldbegehung eingeladen: Die Braugerste für das Ottakringer Original, ein „Vienna Lager“, wächst nämlich auf Wiener Stadtgebiet. Das überrascht dann doch: Gerstenäcker in einer Millionenstadt? Ja, das gibt es – und gar nicht wenig. 2700 Hektar Getreide werden in Wien angebaut, unter anderem für die Produktion von 525 Tonnen Braugerste, aus denen ungefähr 420 Tonnen Braumalz hergestellt werden. Bloß weiß das kaum jemand, wie der Wiener Landwirtschaftskammerpräsident Norbert Walter mit einigem Bedauern feststellt. Er will, weil landwirtschaftliche Flächen ja in Konkurrenz zu Begehrlichkeiten von Wohn- und Straßenbau, zu Interessen von Gewerbe und Industrie stehen, „unsere Produkte sichtbar machen“. Damit Familienväter selbst bei einem Stadtspaziergang sagen können: „Seht her, hier wächst das Bier!“
Dieser Text erschien auch in Der Getränkefachgroßhandel 8/2024